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Rückblick auf ein Stück Hamborner Geschichte

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von Georg Moritz Erbprinz von Sachsen-Altenburg, Herzog zu Sachsen

Die eigentlichen Anfänge des „Sozialen Hilfswerks Schloß Hamborn“ reichen zurück in die Zeit, als man in Deutschland noch die Schrecken der Inflation in den Gliedern spürte, als das Heer der Erwerbslosen die ersten Millionen überschritt und ständig noch weiter stieg. Doch war es auch die Zeit, als die Leistungen und wachsenden Aufgaben der anthroposophischen Heilpädagogik mit ihren großen Erfolgen, gerade auch auf dem Gebiete der Betreuung von Fürsorge- und Wohlfahrtskindern und Jugendlichen, immer weitere Beachtung und Anerkennung fanden. Da entschloß sich eine Gruppe dieser Heilpädagogen, deren alter Horst zu eng geworden war, mit anderen, in gleichem Geisteverbundenen Menschen zu dem Wagnis eines gemeinsamen größeren Unternehmens.
Sie wollten aus einem heruntergewirtschafteten, schwer überlasteten Schloß-Gute, das mit einer Reihe größerer leerstehender Baulichkeiten zusammenhing, eine Stätte erstehen lassen, wo in praktischer Arbeit erziehend, pflegend und heilend am sozialen Wiederaufbau gewirkt werden konnte.
Was wir der geisteswissenschaftlichen Forschung Rudolf Steiners in ihren vielen Hinweisen für das praktische Leben — auf dem Gebiete der Erziehung und Heilkunst, der Ernährung und einer den ganzen Menschen umfassenden Hygiene — verdanken, das wollten wir mit Hilfe der möglichen Gegebenheiten in die Tat umsetzen, um dadurch mit beizutragen zur Hilfe und Heilung einer der Gesundung so sehr bedürfenden Zeit. Das gab uns den Mut. Mut aber steckt an — nicht bloß Furcht — und so wuchsen die Sympathien und das Interesse für unsere Absichten, so daß uns auch unerwartete Hilfen zuteil wurden, oft, wenn es gerade am nötigsten dazu war. — In erster Linie aber müssen wir hier in Dankbarkeit Frau Dr. Ita Wegmans gedenken, der großen Arztin und einstigen Mitarbeiterin Rudolf Steiners, die mit ihrer Tatkraft und mitreißendem Enthusiasmus uns alle befeuerte. Immer wieder besuchte sie uns in den ersten Jahren, beriet uns bis in alle Einzelheiten und freute sich an jedem Fortschritt und Erfolg. Sie ließ uns wertvollste Hilfe auch dadurch zukommen, daß sie uns für die einzelnen Gebiete erfahrene Mitarbeiter aus den von ihr geleiteten Instituten schickte. Ihr Plan war, die sich anbietenden größeren Räumlichkeiten des Schlosses so zu verwenden, daß zahlende Erholungsgäste darin untergebracht werden könnten, daß aber durch das Zusammenwirken aller dort Tätigen ein Lebens- und Kulturstil gepflegt werde, der zu gesamtmenschlicher Förderung und Bildung führen und das soziale Gewissen wieder wecken könne. Denn das war uns von vornherein bewußt: daß den Menschen dieser Niedergangszeit nicht bloß mit pfleglichen Mitteln gedient sein könne, sondern daß noch ein von Grund auf und von innen her Geist bejahender, herzwarmer Impuls hinzufinden müsse. So wollten wir den Nachweis erbringen, daß es Möglichkeiten für ein Zusammenleben gibt, in welchem die freie Individualität ihre volle Förderung findet und doch zugleich die „Ehrfurcht gegenüber allem, was über uns, unter uns und um uns ist“, das tragende, bindende Lebenselement aller werden und sein kann!
All‘ solche Überlegungen hingen mit dem Ur-Impuls des Hamborner Beginnens zusammen und wurden zur richtunggebenden Kraft für seine ersten „Pioniere“: freiwillig und unter Verzicht auf manche persönliche Bequemlichkeit und materielle Sicherheit ans Werk zu gehen, um solch einen Wiederaufbau zu ermöglichen, an den auch sonst gar nicht zu denken gewesen wäre bei den hohen Belastungen, die damals auf dem Anwesen lagen.
Als die in den Adventstagen 1931 nach Schloß Hamborn erfolgte Übersiedtung der Heilpädagogen aus Jena-Zwätzen mit der von ihnen betreuten Kinderschar in das völlig leerstehende Schloß vor sich ging, vollzog sich das alles in äußerlich recht bescheidenen Ausmaßen. Doch sogleich erfüllten Begeisterung und Entdeckerfreude jedermann, groß und klein, mit hellem Jubel und aktivstem Schwung. Wie einst die Pioniere, die auf neues Land gestoßen waren, das man einer guten Idee nutzbar machen wollte, so erlebten sich alle. Viel schwere Arbeit wartete auf uns, die wir als erste auf Hamborn einzogen. Mit besonderer Begeisterung griffen wir es daher auf, daß uns durch eine verständnisvolle Stiftung der Mutter eines einstigen Waldorfschülers die Möglichkeit gegeben wurde, eine Anzahl erwerbsloser junger Menschen aufzufordern, bei der Herrichtung und Vorbereitung für unseren Plan behilflich zu sein. Hieraus entwickelte sich die „Hamborner Kolonne“ (später Hamborner Arbeitsdienst), die über ein Jahr auf Hamborn lebte und wirkte. Manch wertvolle Arbeit wurde von diesen Helfern ausgeführt: Steine lasen sie von über 100 Morgen Ackerland, rodeten Waldland, pflanzten Tausende von Bäumchen und verrichteten mancherlei Maurer- und Zimmermannsarbeiten. — All‘ diese jungen Studenten und Kumpels, prächtige Menschen, nahmen natürlich an unserem gemeinsamen Leben teil. Gerade hierauf lag ein Schwerpunkt bei dieser Zusammenarbeit, da uns bewußt geworden war, wie schwierig es ist, aus einem gemeinsamen Arbeitsgang herausgeworfen zu sein, danach aber die so entstandene soziale Vereinsamung, ja asoziale Stimmung wieder los zu werden. Heilsam und notwendig war daher als erstes solch unbefangenes, menschlich freies Sich-Bewegen und -Begegnen. Ohne solch selbstverständliche Grundeinstellung dem freien Menschen, dem Menschenbruder gegenüber wird in Zukunft jegliches Zusammenarbeiten — auch auf dem ökonomischen Feld — nicht mehr vollziehbar sein. Auch in einem vertieften Begehen der großen Feste des Jahres wird hierfür eine wichtige Aufgabe liegen und zugleich eine wesentliche Hilfe gegeben sein. — Daß etwas von solcher Arbeit und Pflege am Menschlichen doch weiter gewirkt hat, bezeugte uns später so mancher dankbare Gruß unserer jungen Freunde aus dem Felde, und es kam dies vielleicht am ergreifendsten zum Ausdruck in einem letzten Briefe aus dem Kessel von Stalingrad: „Wir halten das hier ja aus, weil wir hoffen, wieder einmal solche Weihnachten feiern zu können, wie wir sie auf Hamborn miteinander erlebt haben.“ —
Pf ingsten 1932 war es dann soweit, daß die ersten Erholungsgäste einziehen konnten. Das Ganze wurde mit einem festlichen Auftakt begonnen und so die Hamborner Arbeit nun erst richtig eingeweiht. Gäste von weit her waren gekommen und verschönten das Zusammensein durch Ansprachen und Vorträge. Die Kinder beteiligten sich mit Gesang und Spiel. Es wurde zu einem richtigen „Rosenfest“. Es wurden auch Ausflüge unternommen in die herrliche Natur und weitere Umgebung mit ihren historischen und prähistorischen alt-geheiligten Stätten.
Auch für die Erholungsgäste hatte das Hamborner Leben und Erleben so seinen besonderen Wert. Es befreite sie nicht nur für Wochen aus engem Alltagsleben, sondern führte wieder zu naher Begegnung von Mensch zu Mensch, wie auch zu den Ur­Berufen des Menschen: So ging man durch den Kuhstall, die Tiere und mehr noch die ganze ruhevolle Atmosphäre bewundernd; man erfreute sich der frei grünenden Natur, man bestaunte und belustigte sich an dem Spiel der Jungfüchse auf der Schloßweide, unternahm Entdeckungswege in Wald und Flur und erlebte aus nächster Anschauung das Wirken und Treiben in Gärtnerei und Landwirtschaft. Nachmittags saß man zusammen in der Bibliothek und abends am Kamin bei heiteren und ernsten, oft weltweiten Gesprächen, erlebte Reiseberichte und diskutierte gern über dies und jenes Buch. So manche fortdauernde Begegnung konnte sich hier anknüpfen, manche gesellschaftliche Scheidewand und manch unberechtigtes Vorurteil führten sich ab adsurdum, nicht durch Theoretisieren, sondern durch das Leben selbst. Auch war es oftmals rührend zu sehen, wie manch kräftiger junger Mann sich in behutsamer Freundschaft und Hilfsbereitschaft zu einem schwerbehinderten Kinde wenden konnte, wenn wir alle zusammen der sonntäglichen Musik im Saale lauschten.
Nach dem täglichen Arbeitsgang wurden für die Kolonne-Zugehörigen praktische Einführungskurse in Tischlerei und Gartenbau gegeben, wie auch durch künstlerische Obungen in Malen, Plastizieren und Schnitzen lebensgesundende Anregungen vermittelt werden konnten. Das Schönste und Spannendste für uns alle aber waren die gut vorbereiteten Aufführungen. Keiner der Beteiligten selbst wie auch der Zuschauer werden die „Jedermann“-Aufführung im Park, wie besonders auch den von unseren rheinisch-westfälischen Kumpels in tadellosem alemannischen Dialekt aufgeführten „Vogel Gryff“ von Friedrich Doldinger vergessen. Einen ganz besonderen Höhepunkt aber bedeutete kr uns alle das von Frau Hemsoth einstudierte und von den Mitarbeitern zur Aufführung gebrachte „Heilige Drama von Eleusis“ von Eduard Schuré.
Zwei große Spezialfeste des Hamborner Völkchens gab es noch im Jahre: den Fasching und das Erntefest. Während der Fasching im Saale stattfand, wobei möglichst alle Ereignisse des Jahres parodiert wurden, wurde zum Erntefest der Kuhstall mit festlichem Grün geschmückt und mit Seife poliert (die Herde war ja bis dahin noch auf der Weide), so daß es eine prächtige Tanzbahn gab und auch sonst sich allerlei Kurzweil und Scherz dabei abspielte. —
Die anfangs sprichwörtliche Wassernot Hamborns konnte erst im Laufe der Jahre durch eine Wasserleitung zu den entfernteren Anschlüssen befriedigend gelöst werden. Im ersten Sommer mußte nach ausgedehnten, aber erfolglosen Bohrversuchen täglich ein Gespann in einer großen Wassertonne vom nächsten 4 km entfernten Dorfe das Wasser herauf bringen.
Besonders schwer war es von jeher um die Hamborner Landwirtschaft bestellt, in deren ungünstigen Verhältnissen ja wohl der Grund für den ständigen Besitzerwechsel und die große Vernachlässigung vor der einstigen Übernahme lag. Ursprünglich mehr als Weidegut gedacht, wurde der zumeist karge, steinige und flachgründige Boden entgegen seiner eigentlichen Entsprechung ackerbaulich genutzt und kriegsbedingt überfordert. Infolge abnormer klimatischer Ungunst in den vergangenen Jahren war seine Bewirtschaftung noch extra schwierig. Es wird noch viel Mühe, Ausdauer und sachgemäßes Eingreifen bedürfen, um ihn so zu verlebendigen, daß er trotz seiner Schwierigkeiten es zu guten Leistungen bringt.
Mit den Dorfbewohnern unserer weiteren Nachbarschaft erfreuen wir uns eines freundschaftlichen Kontaktes, nachdem bei ihnen ein erstes erklärliches Befremden über die ungewohnte, neue Hamborner Lebensweise und Aktivität überwunden war. Der hiesige Menschenschlag beharrt in großer Treue an dem Bewährten, Altgewohnten, so daß man ihm Zeit lassen muß, sich selbst zu überzeugen, ob das ihm noch Unbekannte ebenfalls gut und gerechtfertigt ist. Was er aber einmal anerkennt, dazu steht er auch! — Wir sind gern in diesem schönen Land mit seinen tüchtigen, arbeitsfreudigen Menschen und freuen uns immer, wenn wir durch die schön gelegenen, sauberen Ortschaften kommen. —
Um den staatspolitischen Verdächtigungen, die sich gegen unsere freie Vereins-Existenz und -Tätigkeit immer stärker richteten, einen Riegel vorzuschieben, hatte ich mich im Winter 1935 bereit erklärt, persönlich die Verantwortung von Hamborn auf mich zu nehmen und es deswegen auf meinen Namen eintragen zu lassen, um so unsere menschenpflegerische soziale Arbeit besser schützen und schirmen zu können. Dies konnte nach langen Verhandlungen mit den betreffenden staatlichen Stellen dann 1936 so zustande kommen, daß ich das ganze Anwesen — mit Ausnahme des heilpädagogischen Kinderheims und der Gärtnerei, die selbständig blieben — auf lange Zeit hinaus persönlich in Pacht übernahm. So konnte das Hamborner Leben noch die nächsten fünf Jahre, also bis in den Krieg hinein, zur Stärkung vieler erholungsbedürftiger Menschen und der politisch so besonders gefährdeten kranken Kinder weitergeführt werden. Aber auch in dieser für jedes freie geistige Wirken immer schwieriger werdenden Zeit wurden wir nicht von Denunziationen, Verhören und Verbotsattacken verschont, konnten uns so aber immer noch wieder zurecht kämpfen. 1940 wurde mir durch die Kreisbauernschaft der landwirtschaftliche Betrieb herausgegliedert, wobei ich aber noch das Glück hatte, in dem uns aufgezwungenen Pächter einen durch und durch taktvollen Menschen und tüchtigen Landwirt als Nachbarn zu bekommen, der wohlwollendes Verständnis gegen so mancherlei behördliches Drangsalieren uns gegenüber zeigte. Juni 1941 aber, am Tage der allgemeinen Hess-Verfolgungsaktion, war es dann so weit: auch Hamborns Lebenslicht sollte ausgelöscht werden. Hamborn wurde beschlagnahmt und enteignet. Ich selbst und meine rechte Hand im Betrieb, Herr Adolf Ammerschläger, wurden, ohne persönlich Stellung nehmen zu können, wie Verbrecher zu dreivierteljähriger staatspolitischer Schutzhaft abgeführt. Alle Mitarbeiter wurden ortsverwiesen, sie durften späterhin — mit Ausnahme der Eigentümer eines einzigen Privathauses — Hamborn nicht wieder betreten. Das Schloß wurde in ein Mütter-Erholungsheim der damaligen NSV umgewandelt. Alles Inventar und alle Werte wurden beschlagnahmt.
Erst Deutschlands zweiter großer Zusammenbruch 1945 überholte solches Verbot und ermöglichte uns nach energischen Verhandlungen mit den Besatzungsbehörden als die rechtmäßigen Eigentümer wieder anerkannt zu werden. Da nun aber in den letzten Kriegswochen die Stadt Paderborn größtenteils durch Bombenangriffe vernichtet worden war, mußte ein Teil der Oberlebenden des städtischen Altersheimes in das nunmehr leerstehende Schloß evakuiert werden. Es brauchte noch Jahre, bis für diese hilflosen Flüchtlinge wieder Raum in ihrer Heimatstadt geschaffen war und dem eigentlichen Besitzer alle Räume auf Hamborn wieder zur Verfügung stehen konnten.
Viele Einzelschicksale unserer Mitarbeiter müßten hier noch Erwähnung finden, die mit ganzer Kraft und Liebe sich in den Aufbau hineingestellt haben und von denen so viele, zumal durch den Krieg, der Tod von unserer Seite gerissen hat. Sie alle wissen wir auch fürderhin mit Hamborns Wesen und Streben verbunden.
So spiegelt der erste Hamborner Lebensabschnitt auch etwas von der Vielfältigkeit und dem Ernst der Zeit in seinem eigenen Leben und Wirken wider. — Die Lebensumstände nach 1945 verlangten nun ein von Grund aus neu zu gestaltendes Beginnen.

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